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  • Maisaa Naoulos Erinnerung an die Flucht über das Mittelmeer
    „Das war sehr gefährlich. Im Meer, ein Tag auf dem Meer, das komplette Meer ... Und die Kinder können nicht schwimmen ….“

    Maisaa Naoulos Erinnerung an die Flucht über das Mittelmeer

Maisaa Naoulo

Maisaa Naoulo

Biografie

Maisaa Naoulo wurde am 10. Juni 1982 im syrischen Aleppo geboren, wo sie zusammen mit ihren sieben Geschwistern eine unbeschwerte Kindheit verbrachte. Solange die Kinder klein waren, kümmerte sich ihr Vater zunächst als Lehrer und später als Händler von Granitböden um den Lebensunterhalt der Familie. Nach neun Jahren Schule begann die 16-jährige Maisaa eine Ausbildung zur Krankenschwester in Aleppo. Auf Wunsch ihrer Eltern wechselte sie nach einem Jahr zu einer Lehre als Schneiderin.

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1982
Aleppo vor dem Bürgerkrieg

Aleppo vor dem Bürgerkrieg

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2009

Mit 18 Jahren heiratete Maisaa Naoulo und zog mit ihrem Mann in ein eigenes Haus in Aleppo. Sie kümmerte sich um ihre vier gemeinsamen Kinder und arbeitete weiter als Schneiderin.

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2000
Maisaa Naoulo mit Ehemann und Kindern in Aleppo

Maisaa Naoulo mit Ehemann und Kindern in Aleppo

NAOULO

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2014

2011 änderte sich das Leben der Familie in Aleppo drastisch. Die zweitgrößte Stadt Syriens entwickelte sich zu einem umkämpften Schauplatz des syrischen Bürgerkriegs. Aus Angst vor Bombenangriffen verließen Maisaa Naoulo und ihre Kinder kaum noch das Haus.

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2011 - 2015
2015 wurde die Schule von Maisaas Bruder zerstört. Sie lag ganz in der Nähe ihres Wohnortes.

2015 wurde die Schule von Maisaas Bruder zerstört. Sie lag ganz in der Nähe ihres Wohnortes.

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2015

Nachdem ihrem Mann bereits im Juni 2015 die Flucht nach Deutschland geglückt war, verließ auch Maisaa mit ihren Kindern wenige Monate später ihre Heimatstadt. Zwei ihrer Schwestern, ein Schwager und dessen sechs Kinder machten sich mit ihnen auf den gefährlichen Weg nach Europa.

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Herbst 2015
Die Kinder von Maisaa Naoulo während ihrer Flucht durch den Libanon im Herbst 2015

Die Kinder von Maisaa Naoulo während ihrer Flucht durch den Libanon im Herbst 2015

NAOULO

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2015

Anfang November erreichte auch Maisaa Naoulo endlich Deutschland. Nach Monaten der Trennung und Ungewissheit war die Familie wieder vereint.

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Winter 2015
Maisaa Naoulo mit ihren Kindern in Aachen, Nordrhein-Westfalen

Maisaa Naoulo mit ihren Kindern in Aachen, Nordrhein-Westfalen

NAOULO

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Weihnachten 2015

Heute lebt Maisaa Naoulo mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Mülheim an der Ruhr und arbeitet als Schneiderin. Nach Syrien zurückkehren möchte die Familie nicht.

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Gegenwart
Icon - Maschendrahtzaun
Maisaa Naoulo

Leben in Syrien

Maisaa Naoulo wuchs im Kreise ihrer Familie im syrischen Aleppo auf. Die Zeit vor dem syrischen Bürgerkrieg hat sie in guter Erinnerung.

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VIDEO // CLIP 1: Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend
Zeichnung von Maisaas Tochter Rama Horst

Zeichnung von Maisaas Tochter Rama Homsi

RAMA HOmsi

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Rauchschwaden nach Bombenangriff
Syrien vor dem Bürgerkrieg

Seit 1970 wird Syrien auf allen Ebenen von Mitgliedern der Großfamilie Assad diktatorisch regiert – zunächst von Hafiz al-Assad, seit 2000 dann von seinem Sohn Baschar al-Assad. Offiziell gibt es im Land zwar ein Mehrparteiensystem und es finden regelmäßig Wahlen statt, faktisch dominiert aber die Baath-Partei, welche vollständig auf die Machtsicherung des Präsidenten ausgerichtet ist. Die ursprüngliche Ideologie der Baath-Partei – die Schaffung eines säkularen, sozialistisch orientierten Staates, der alle arabischsprachigen Länder umfassen soll – hat inzwischen stark an Bedeutung verloren gegenüber dem Ziel der reinen Herrschaftssicherung in Syrien. Machtpositionen in Partei und Regierung besetzen Angehörige der Alawiten, einer kleineren Religionsgemeinschaft innerhalb des Islams, welcher auch die Familie Assad angehört.

Nachdem Hafiz al-Assad im Jahr 1970 durch einen Putsch an die Macht gekommen war, baute er in den folgenden Jahrzehnten einen gigantischen Sicherheits- und Überwachungsapparat auf. Oppositionelle Bestrebungen und Aufstände wurden brutal niedergeschlagen. Warenknappheit, Korruption und die Bespitzelung durch zahlreiche Geheimdienste prägten den Alltag der Menschen. Wer sich in der Öffentlichkeit kritisch äußerte oder weigerte, dem Personenkult um Assad zu folgen, riskierte Haftstrafen, Folter oder sogar den Tod in einem der zahlreichen Gefängnisse. Gerichtsverfahren waren dabei eher selten; meist entschied die Geheimpolizei ohne jegliche Verhandlung.

Als Hafiz Al-Assad im Jahr 2000 starb und sein Sohn Baschar das Präsidentenamt übernahm, hofften viele Syrer auf eine Liberalisierung und Modernisierung durch den damals 34-Jährigen, der zuvor in Großbritannien Medizin studiert hatte. In den ersten Monaten der neuen Präsidentschaft schienen diese Hoffnungen berechtigt: Baschar al-Assad erlaubte die Nutzung des Internets und entließ Hunderte politische Gefangene, während Intellektuelle über demokratische und soziale Reformen diskutieren durften. Im September 2001 beendete Assad jedoch diesen sogenannten Damaszener Frühling und begann wieder mit der Unterdrückung jeglicher Opposition. Überwachung, Folter und das Verschwindenlassen politischer Gegner gehörten seither wieder zu den Mitteln der syrischen Geheimdienste.

Wie in vielen Diktaturen traf die volle Härte des Unterdrückungsapparates in erster Linie diejenigen, die Unzufriedenheit erkennen ließen, ihre kritische Meinungen äußerten oder gegen die Herrschaft aufbegehrten. Die alawitische Herrscherfamilie al-Assad hielt sich die sunnitische Mehrheit im Land gefügig, indem sie an Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe Ämter und Privilegien auf allen Ebenen verteilte. Eine ebenso wichtige Rolle für ihre Machtsicherung spielte die große christliche Minderheit des Landes, die im zivilen Leben zahlreiche Sonder- und Schutzrechte genießt, wie Kirchen, eigene Schulen und Gerichte. Gleichzeitig orientierten sich in großen Städten wie Damaskus und Aleppo immer mehr Menschen an europäischen Standards von Wohlstand und freiem Meinungsaustausch. Eine Mischung aus Angst, Unzufriedenheit, Wut und Sehnsucht nach Reformen prägte bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 den Alltag vieler Menschen in Syrien.

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Maisaa Naoulo

Fluchtentscheidung

Der Krieg erreichte Aleppo im Sommer 2012. Oppositionelle Milizen und Regierungstruppen kämpften seitdem jahrelang um die Wirtschaftsmetropole. Die Kämpfe kosteten Tausende Zivilisten das Leben. Sie zerstörten zahlreiche historische Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes, ganze Straßenzüge und bis heute etwa 33.000 Wohnhäuser – darunter auch das Haus der Familie Naoulo. Das Leben in der Stadt wurde für die Zivilbevölkerung in den folgenden Jahren immer unerträglicher. Es fehlte an Lebensmitteln, Wasser und Strom. Die Schulen mussten immer wieder schließen und jeder Weg wurde zur Gefahr. Der Krieg bestimmte den Alltag der Familie.

2012 verschwand der Bruder von Maisaas Mann spurlos. Weil die Polizei immer wieder Fragen zur politischen Einstellung ihres Schwagers stellte, befürchtete Maisaas Mann, ebenfalls der Assad-Gegnerschaft verdächtigt und verhaftet zu werden. Zudem bestand die Gefahr, dass ihr 12-jähriger Sohn von regierungstreuen Milizen zwangsrekrutiert werden könnte. Die Familie entschloss sich daher zur Flucht. Maisaas Mann sollte als erster das Land verlassen, um die gefährliche Fluchtroute zu erkunden und Vorbereitungen für die Flucht seiner Frau und Kinder zu treffen.

Alltag zwischen Ruinen

Alltag zwischen Ruinen

FRIEDEMANN KOHLER / DPA

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Spuren des syrischen Bürgerkriegs
Bürgerkrieg in Syrien

Ausgehend von Tunesien kam es ab Ende 2010 in zahlreichen arabischen Staaten zu Massenprotesten gegen die jeweiligen autokratischen Machthaber. Die Forderungen der Demonstranten konzentrierten sich zumeist auf mehr Freiheitsrechte und bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung. Auch auf Syriens Straßen protestierten in den folgenden Monaten Tausende Menschen, darunter viele Jugendliche und Studenten. Sie forderten demokratische Reformen, Pressefreiheit, freie Wahlen sowie ein Ende der brutalen Unterdrückung durch die staatlichen Geheimdienste. Als die syrische Regierung gewaltsam gegen die Proteste vorgehen ließ und immer öfter sogar Schüsse auf friedliche Demonstranten fielen, forderten die Aufständischen schließlich auch direkt den Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad.

Zur Niederschlagung der Aufstände mobilisierte die Staatsführung unter anderem auch die Armee. Um nicht auf friedliche Zivilisten schießen zu müssen, desertierten allerdings Zehntausende Soldaten oder entzogen sich ihrer Einberufung durch Flucht oder Untertauchen, denn Fahnenflüchtigen drohen in Syrien langjährige Haft, Folter und sogar die Todesstrafe.

Einige der Deserteure schlossen sich mit Teilen der Aufständischen zur sogenannten Freien Syrischen Armee (FSA) zusammen und traten den Regierungstruppen fortan militärisch gegenüber. Daneben entstanden auch islamistische Milizen, die vor allem von internationalen Terrorgruppen unterstützt werden. Daneben kämpften im Norden des Landes auch Kurden gegen Assads Truppen, unter anderem für das Ziel eines eigenständigen Kurdenstaates. Im Schatten des syrischen Bürgerkriegs gründete sich schließlich der sogenannte Islamische Staat (IS), eine radikal-dschihadistische Terrororganisation, die weite Teile Syriens und des Iraks mit Mord und Angst überzog.

Die Verbrechen des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung nahmen im Verlauf des Bürgerkriegs ein neues Ausmaß an. Die Regierungstruppen warfen gezielt Streubomben in Wohnvierteln ab und zielten dabei auch auf Krankenhäuser und Schulen. Ferner werden sie beschuldigt, mehrere Male Giftgas eingesetzt zu haben. Sie riegelten ganze Stadtteile, Städte oder Regionen wie Aleppo, Ost-Ghouta und Idlib ab und blockierten internationale Hilfslieferungen für deren Bewohner. Auch andere Konfliktparteien, vor allem die islamistischen Gruppierungen, begingen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Insgesamt kostete der Krieg bisher nach Schätzungen der Vereinten Nationen etwa eine halbe Million Menschen das Leben. Rund 12 Millionen Menschen sind vor Krieg und Gewalt in Syrien auf der Flucht, davon etwa 6,6 Millionen im Ausland – vorwiegend in den benachbarten Staaten Türkei, Libanon, Jordanien und Saudi-Arabien. Etwa eine Million syrischer Geflüchteter lebt heute in Europa, davon mehr als 800.000 in Deutschland.

Im Verlauf des Krieges griffen immer wieder auch regionale Mächte wie der Iran oder die Türkei in den Krieg ein, um eigene geostrategische Interessen zu verfolgen. Auch Russland, China und die USA, verschiedene europäische Staaten sowie die NATO sind oder waren direkt bzw. indirekt in den Konflikt involviert. Mit der Unterstützung Russlands gelang es Assad seit 2015 Stück für Stück fast alle Landesteile zurückzuerobern. Trotzdem gilt der Bürgerkrieg gegenwärtig nicht als beendet. Kämpfe zwischen Regierungstruppen, islamistischen Milizen und Oppositionsgruppen flammen immer wieder auf. Eine diplomatische Lösung scheint heute aber ferner denn je. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt aufgrund des russischen und chinesischen Vetos zu keiner gemeinsamen Verurteilung der begangenen Kriegsverbrechen. Millionen Menschen in Syrien bleiben auf humanitäre Hilfe angewiesen. Seit 2020 verschärft die Corona-Pandemie zusätzlich die angespannte Lage der Zivilbevölkerung.

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VIDEO // CLIP 2: Entscheidung zur Flucht

Täglicher Kampf ums Überleben

„Nicht nur Häuser und ganze Stadtviertel liegen in Trümmern. Auch die lebensnotwendige Infrastruktur ist vielerorts zusammengebrochen oder schwer beschädigt. Im Vergleich zu der Zeit vor dem Konflikt steht nur noch halb so viel Trinkwasser zur Verfügung.


Im September 2015 waren zwei Millionen Menschen in Aleppo tagelang ganz von der Wasserversorgung abgeschnitten. Nur noch ein Drittel der Krankenhäuser ist in Betrieb, während die Hälfte der Ärzte das Land verlassen hat. Lebensmittel sind teilweise nicht verfügbar oder für viele Familien unerschwinglich teuer geworden. Mangelernährung von Kindern hat in der Folge deutlich zugenommen. UNICEF schätzt, dass bis zu vier Millionen Kinder und schwangere Frauen in Syrien dringend besser versorgt werden müssen, um die schleichende Auszehrung durch Mangelernährung zu verhindern.“

UNICEF-LAGEBERICHT ZUR SITUATION DER SYRISCHEN KINDER IM KRIEG UND AUF DER FLUCHT, 2015, SEITE 6

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Lagebericht

Zwei Millionen Kinder ohne Schule

„Bildung hat einen hohen Stellenwert für Eltern und Kinder in Syrien – vor Beginn des Bürgerkriegs lag die Einschulungsrate bei fast 97 Prozent. Doch der Konflikt hat die Entwicklung des Landes um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Über 6.000 Schulen sind nicht funktionsfähig – weil sie zerstört wurden, weil sie als Notunterkünfte dienen oder von Soldaten und Kämpfern genutzt werden. Mehr als 50.000 Lehrer sind geflohen. Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule, aus Angst, dass ihnen dort oder auf dem Weg dorthin etwas passiert. Andere Mädchen und Jungen gehen von der Schule ab, weil sie früh verheiratet werden oder arbeiten müssen, damit die Familien überleben können. Heute gehen deshalb rund zwei Millionen Kinder in Syrien nicht zur Schule – das sind zwei Millionen Mädchen und Jungen, deren Zukunft geraubt wird. Zwei Millionen junge Leute, für die es sehr schwer wird, später einmal Ärztin, Lehrer oder Architektin zu werden und beim Aufbau ihres Landes zu helfen.“

UNICEF-LAGEBERICHT ZUR SITUATION DER SYRISCHEN KINDER IM KRIEG UND AUF DER FLUCHT, 2015, SEITE 6

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Lagebericht

„Nach UN-Angaben sind seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien etwa eine halbe Million Menschen getötet worden und derzeit etwa zwölf Millionen Syrer von Flucht und Vertreibung betroffen: 5,7 Millionen haben das Land verlassen und über sechs Millionen sind Binnenflüchtlinge.“

AUSZUG AUS DEM LÄNDERBERICHT „SYRIEN. ENTWICKLUNGEN IM SCHATTEN VON CORONA“, VON AUGUST 2020, HRSG. VON GREGOR JAECKE/KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG

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Fatale Kriegsbilanz
Maisaa Naoulo

Flucht

Das Ziel von Maisaa Naoulo und ihren Kindern war Deutschland, weil bereits einige Monate zuvor ihr Ehemann hierher geflüchtet war. Der Weg dorthin führte allerdings über viele Zwischenstationen und war sehr gefährlich. Obwohl in Europa täglich neue Berichte von den Menschenrechtsverletzungen und von der humanitären Katastrophe im syrischen Bürgerkrieg eintrafen, gab es keine europäischen Flüchtlingskontingente in relevanter Größe. Daher mussten sich Flüchtende auf den riskanten Weg übers Mittelmeer machen, der vielen von ihnen das Leben kostete.

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VIDEO // CLIP 3: Der Fluchtweg
Die Kinder von Maissa Naoulo in einem mazedonischen Flüchtlingslager im Herbst 2015

Die Kinder von Maissa Naoulo in einem mazedonischen Flüchtlingslager im Herbst 2015

NAOULO

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Flüchtlingslager
Fluchtwege nach Europa

Viele Europäer sind davon überzeugt, dass sich die weltweiten Fluchtströme der Gegenwart vor allem in Richtung des europäischen Kontinents bewegen. In Wirklichkeit haben vergleichsweise wenige Flüchtende die Absicht – ganz zu schweigen von den notwendigen Mitteln – sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die weitaus meisten flüchten in eine sicherere Region in ihrem Land oder suchen Schutz in einem der Nachbarländer. Gemessen an seiner eigenen Einwohnerzahl hat das kleine Land Libanon aktuell die weltweit meisten Flüchtlinge aufgenommen. Zutreffend ist aber, dass Europa – vor allem das Territorium der Europäischen Union (EU) – im internationalen Fluchtgeschehen aufgrund des Wohlstands, der politischen Stabilität und der demokratischen Freiheiten ein zentraler Zielort ist. Auf legalem Weg ist die Einreise in die EU für die meisten Flüchtenden nicht möglich, da sie nur selten ein Visum direkt in ihrem Herkunftsland erhalten. Die zuständige deutsche Botschaft in Syrien beispielsweise blieb seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs geschlossen.

Als Flüchtender ohne Visum in die EU zu gelangen, ist ausgesprochen schwierig. Die Landgrenzen im Osten und im Südosten wurden in den letzten Jahrzehnten unter großem Aufwand gesichert und werden streng überwacht. Flüchtende entscheiden sich deswegen immer häufiger für eine riskante Fahrt über das Mittelmeer: entweder entlang der Zentralen Mittelmeerroute über Libyen bzw. Tunesien nach Italien oder entlang der Östlichen Mittelmeerroute über die Ägäis von der Türkei nach Griechenland.

Diese Routen sind gefährlich, aber von den europäischen Grenzschutzbehörden auf See nur schwer zu kontrollieren. Schlepper nutzen diese Tatsache und locken die Flüchtenden mit dem Versprechen einer schnellen Überfahrt. Meist verkaufen sie ihnen Plätze in seeuntauglichen Booten, die noch dazu völlig überladen werden. Für eine Überfahrt zahlt ein Flüchtender laut einer Studie im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge durchschnittlich 7.000 Euro, wofür viele Menschen all ihr Hab und Gut veräußern. Wer nicht genug Geld aufbringen kann, muss vor der Überfahrt monatelang in einem Drittland warten und unter schlechten, gefährlichen sowie häufig inhumanen Bedingungen leben und arbeiten.

Die Schlepper setzen die Flüchtlingsboote in der Regel vor der Küste italienischer, spanischer oder griechischer Inseln aus, teilweise aber auch auf hoher See – nicht selten völlig manövrierunfähig, ohne Motor und ohne Verpflegung für die Insassen. Regelmäßig kommt es deshalb im Mittelmeer zu schweren Bootsunglücken, bei denen Hunderte Flüchtende ertrinken. Die Vereinten Nationen (UN) bezeichnen den Weg über das Mittelmeer daher als „tödlichste Seeroute der Welt“. Laut der UN-Organisation für Migration (IOM) starben im Mittelmeer allein zwischen 2014 und 2020 mehr als 20.000 Menschen auf dem Weg nach Europa.

Zahlreiche nicht-staatliche, spendenfinanzierte Hilfsorganisationen fahren Missionen im Mittelmeer und retten in Seenot geratene Menschen aus überfüllten oder sinkenden Booten. Sie kritisieren dabei auch die europäische Migrationspolitik und sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ertrinken Tausender Geflüchteter im Mittelmeer und der Abschottungspolitik der Europäischen Union. Ihre humanitären Hilfsmissionen werden durch die Behörden der europäischen Mittelmeeranrainerstaaten unter Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen immer wieder behindert: so dürfen etwa Rettungsschiffe nicht in europäische Häfen einlaufen oder werden dort direkt konfisziert und festgesetzt, während die Geflüchteten die Schiffe nicht verlassen dürfen.

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Flüchtlingsboot vor Griechenland, Symbolbild von 2016

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ANJO KAN

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Übers Mittelmeer
Europäische Migrationspolitik

Die Migrationspolitik der Europäischen Union (EU) ist in den letzten Jahrzehnten durch Abschottung und Uneinigkeit gekennzeichnet. So konnten sich die EU-Mitgliedsstaaten weder auf legale Möglichkeiten zur Einreise Asylsuchender noch auf eine gemeinsame zivile Seenotrettungsmission im Mittelmeer einigen. Unter der Koordination der EU-Grenzschutzagentur Frontex wurden in den letzten Jahren zwar Zehntausende in Seenot geratene Flüchtende gerettet, allerdings ist die Behörde eigentlich in erster Linie für die Sicherung der südlichen Außengrenzen zuständig. So kommt es etwa in der Ägäis immer wieder vor, dass die europäischen Grenzschützer die Motoren von Flüchtlingsbooten zerstören und diese anschließend wieder in türkische Küstengewässer zurückschleppen. Diese sogenannten Push-Backs sehen viele Juristen und auch der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen als illegal an, weil den Flüchtenden dadurch ihr Recht auf Beantragung von Asyl verweigert wird und sie in Seenot keine Hilfe erhalten.

Uneinigkeit besteht ebenfalls über die Verteilung von Geflüchteten auf die EU-Mitgliedstaaten. Momentan gilt in der EU grundsätzlich, dass jeder Schutzsuchende einen Asylantrag nur in dem Land stellen kann, in dem er zuerst europäischen Boden betritt. In den meisten Fällen sind das neben mitteleuropäischen Staaten wie Ungarn die südeuropäischen Mittelmeeranrainer Griechenland, Italien, Malta und Spanien. Geflüchtete, die von dort beispielsweise nach Deutschland weiterreisen, können also in ihr Ankunftsland abgeschoben werden.

Durch dieses sogenannte Dublin-III-System schulterten die südlichen Grenzstaaten der EU lange die Hauptverantwortung für die Aufnahme von Geflüchteten in Europa. Die Staaten ohne EU-Außengrenze konnten deswegen die Zuständigkeit für ein Asylverfahren meistens an die ursprünglichen Einreisestaaten abgeben und Geflüchtete wieder dorthin abschieben. Als die Geflüchtetenzahlen nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs besonders stark anstiegen, wurde immer deutlicher, dass das Dublin-III-System nicht funktioniert und ungerecht ist. Deutschland begann damit, die Asylanträge Geflüchteter aus Syrien unabhängig von ihre Einreiseroute selbst zu bearbeiten. Gleichzeitig drängte die Bundesregierung angesichts Hunderttausender nach Deutschland strebender Flüchtender auf einen europäischen Verteilungsmechanismus für Schutzsuchende. Andere EU-Staaten – vorwiegend aus Ostmitteleuropa – blockieren diese Reformierung des Dublin-Systems, um keine Geflüchteten aufnehmen zu müssen.

Einigen konnten sich die EU-Staaten jedoch auf das Ziel, die Fluchtrouten über das Mittelmeer zu schließen, um die Fluchtbewegungen aus Afrika und Vorderasien möglichst schon vor Europas Außengrenzen zum Erliegen zu bringen. Im Fall der Östlichen Mittelmeerroute gelang dies weitgehend durch ein 2016 verhandeltes Rückführungs- und Unterstützungsabkommen mit der Türkei. Dadurch soll einerseits das Massensterben im Mittelmeer beendet werden, andererseits dient das Abkommen der beschriebenen Abschottung Europas.

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Maisaa Naoulo

Folgen

Maisaa Naoulo kam mit ihren Kindern am 03. November 2015 in Deutschland an. Ihr Mann wartete bereits auf sie. Mehr als fünf Monate hatten sie einander nicht gesehen. Nun galt es, das Leben in einem fremden Land zu meistern und mit den Erinnerungen an die Vergangenheit zurecht zu kommen. Wie allen Geflüchteten in Deutschland stand der Familie Naoulo auch ein langer Weg durch die Behörden bevor.

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VIDEO // CLIP 4: Herausforderungen in der neuen Welt
Rechtliche Situation Geflüchteter in Deutschland

Wer als Geflüchteter Schutz in Deutschland sucht, darf im Land bleiben, wenn er in einem Asylverfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine Schutzbedürftigkeit glaubhaft machen kann. Rechtlich gibt es dazu je nach persönlicher Situation und der Lage im Herkunftsland vier verschiedene Schutzformen: Die Anerkennung als Asylberechtigter, die Gewährung von Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Gewährung von subsidiärem Schutz und ein Abschiebeverbot.

Die engsten Anforderungen stellt die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Artikel 16a des Grundgesetzes. Hiernach erhält Asyl, wer im Heimatland aufgrund der Rasse (im Sinne der GFK), Nationalität, politischen Überzeugung, Religion oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe politisch verfolgt oder von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen bedroht ist. Geflüchtete können allerdings nur einmal innerhalb der Europäischen Union einen Asylantrag stellen – in der Regel im Ankunftsland.

Der Flüchtlingsschutz gemäß der GFK ist dagegen weiter gefasst und greift auch bei der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, im Fall des syrischen Bürgerkriegs also auch bei der Verfolgung durch islamistische Milizen oder die Terrororganisation „Islamischer Staat“.

Wer weder Asyl noch Flüchtlingsschutz erhält, kann einen Anspruch auf sogenannten subsidiären Schutz nach § 4 des Asylgesetzes geltend machen, wenn ihm nach Abschiebung in sein Herkunftsland „ernsthafter Schaden“ für Leib und Leben drohen würde, etwa durch Krieg, Folter oder die Vollstreckung der Todesstrafe.

Greifen die drei genannten Schutzformen nicht, kann unter bestimmten Umständen ein Abschiebeverbot erteilt werden, wenn die Abschiebung eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen würde. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn etwa eine lebensbedrohliche Erkrankung der Person in ihrem Herkunftsland nicht behandelt werden kann.

Die Schutzformen unterscheiden sich dabei erheblich hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den Schutzsuchenden – zum Beispiel in der Dauer, für die der Schutz gewährt wird, im Arbeitsmarktzugang und in der Möglichkeit des Familiennachzugs. Die Aufenthaltserlaubnis ist beim subsidiären Schutz zeitlich begrenzt. Darüber hinaus haben die Schutzsuchenden zwar unbeschränkten Arbeitsmarktzugang und die Erwerbstätigkeit ist gestattet, die Selbständigkeit ist jedoch ausgeschlossen. Dadurch haben Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge gewisse Vorteile gegenüber Menschen, die lediglich subsidiären Schutz erhalten oder aufgrund eines Abschiebeverbots in Deutschland bleiben.

Im Rahmen des Asylverfahrens prüft das BAMF die Schutzberechtigung jedes Antragstellers individuell. Bestimmte Länder gelten jedoch als „sichere Herkunftsstaaten“. Wer aus einem dieser Länder nach Deutschland flieht, muss höhere Hürden beim Nachweis seiner Schutzbedürftigkeit bewältigen und kann leichter abgeschoben werden. Sichere Herkunftsstaaten sind derzeit alle EU-Länder, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien.

Menschenrechts- und Geflüchtetenorganisationen kritisieren die Erweiterung der Liste „sicherer Herkunftsländer“ und zahlreiche weitere Verschärfungen des Asylrechts der letzten Jahre. Scharfe Kritik üben sie auch am Asylverfahren selbst, welches die Antragstellenden immer wieder strukturell benachteilige – durch lange Wartezeiten, mangelhafte Beratung, fehlenden anwaltlichen Beistand und zu wenige Sprachmittler. Schließlich steht auch die soziale Situation Geflüchteter im laufenden Asylverfahren in der Kritik: Vor einem positiven Entscheid haben Schutzsuchende keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und keinen Anspruch auf den Besuch von Sprach- oder Integrationskursen. Sie erhalten deutlich niedrigere Sozialleistungen als etwa Empfänger von Arbeitslosengeld II. Teilweise werden Lebensmittelgutscheine statt Geld ausgegeben. Je nach Bundesland sind die Asylbewerber in zentralen oder dezentralen Unterkünften untergebracht. Ihren Wohnort dürfen sie nicht frei wählen. In Kombination mit im Alltag immer wieder erlebtem Rassismus und Diskriminierung führen diese rechtlichen Rahmenbedingungen dazu, dass sich viele Geflüchtete in Deutschland als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen.

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Statistik – Asylantragsteller
Statistik – Asylantragsteller - 202-2019

Seit 2014 stammten die meisten Asylantragsteller in Deutschland in jedem Jahr aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Nachdem in den beiden Jahren 2015 und 2016 zusammen insgesamt 425.000 Syrer Erstanträge in Deutschland gestellt hatten, gingen die Zahlen bis 2020 kontinuierlich zurück.

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Herkunftsländer
Maisaa Naoulo mit ihren Kindern in Aachen, Nordrhein-Westfalen

Die Familie Naoulo 2015 in Aachen, Nordrhein-Westfalen

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2015

Heute lebt die Familie Naoulo in Mühlheim an der Ruhr. Die Eheleute gehen ihren Berufen als Schneiderin und LKW-Fahrer nach. Der älteste Sohn absolviert eine Ausbildung zum KFZ-Schlosser, die jüngeren Geschwister gehen zur Schule.

Nach Syrien möchte Maisaa Naoulo auf keinen Fall zurückkehren. Ihre Kinder betrachten Deutschland als ihr Zuhause und die Familie ist glücklich in ihrer Wahlheimat, auch wenn sie ihre Angehörigen und Freunde in Syrien vermissen.

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2015
Icon - Maschendrahtzaun
Maisaa Naoulo

Quellen

Das Interview mit Maisaa Naoulo wurde im August 2020 durch Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Cottbus geführt und aufgezeichnet.

Wir danken herzlich der Familie Naoulo, der Nachrichtenagentur dpa sowie allen weiteren Rechteinhabern für die Erlaubnis zur Nutzung der Fotos, Interviewclips und Dokumente für das Projekt NUR FORT VON HIER.