• „Ich bin Chris Bürger. Ich komme aus der DDR und gehe jetzt hier nicht wieder raus.“

    Peter Christian Bürger Worte 1989 bei seiner Ankunft in der Bundesdeutschen Botschaft in Prag

Peter Christian Bürger

Peter Christian Bürger

Biografie

Peter Christian Bürger wurde am 31. März 1956 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, geboren. Als Jugendlicher engagierte er sich in der evangelischen Jugendgruppe Junge Gemeinde.

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1956

Nach dem Schulabschluss an der Polytechnischen Oberschule absolvierte er von 1973 bis 1975 eine Lehre zum Gaststättenfacharbeiter. Im Anschluss daran musste er von 1976 bis 1978 einen 18-monatigen Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) ableisten, bevor er seinen beruflichen Werdegang fortsetzen konnte.

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1973 - 1975
Peter Christian Bürgers zur Zeit seines Wehrdienstes im Jahr 1978

Peter Christian Bürger im Jahr 1978

Peter Christian Bürger

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1978

Seinen ersten Ausreiseantrag stellte Peter Christian Bürger 1984. Dieser wurde jedoch ohne Angabe von Gründen abgelehnt, genauso wie ein weiterer im Folgejahr. So fasste er den Entschluss, die DDR illegal zu verlassen.

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1984
Die Strafvollzugseinrichtung Cottbus Mitte der 1980er Jahre

Die Strafvollzugseinrichtung Cottbus Mitte der 1980er Jahre

Cottbuser Häftlingsgemeinschaft

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1985

Bevor er seinen Plan umsetzen konnte, verhafteten ihn am 16. Februar 1986 zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an seinem Arbeitsplatz und brachten ihn in das MfS-Untersuchungsgefängnis Kaßberg in Karl-Marx-Stadt. Nach sechs Monaten in Einzelhaft und unzähligen Verhören wurde Peter Christian Bürger angeklagt. Unter dem Vorwurf der Vorbereitung eines „illegalen Grenzübertritts in schwerem Fall“ verurteilte ihn das Gericht zu drei Jahren Freiheitsentzug. Bereits am 04. November 1987 wurde er jedoch aufgrund einer Amnestie vorzeitig aus der Haft entlassen.

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1986 - 1987

Im Juni 1989 unternahm Peter Christian Bürger einen zweiten Fluchtversuch. Wie Tausende andere DDR-Bürger suchte er Zuflucht in der bundesdeutschen Botschaft in Prag, in der Hoffnung auf die Möglichkeit zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Als die Flüchtlinge immer mehr wurden und die Botschaft den Aufenthalt der Flüchtlinge organisieren und koordinieren musste, sollten die Flüchtlinge aus ihren Reihen einen Sprecher bestimmen. Die Wahl fiel auf ihn.

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1989
Zelte für Zufluchtssuchende auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Zelte für Zufluchtssuchende auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Christine Meder

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1989

In der Nacht vom 30. September auf den 01. Oktober 1989 konnten die Flüchtlinge, die zum Teil vier Monate in der Prager Botschaft ausharren mussten, nach langer Unsicherheit in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. In seiner neuen Heimat Bayern fand Peter Christian Bürger schnell eine Anstellung in der Gastronomie. Fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung kehrte er in seine Geburtsstadt zurück, wo er an einer Weiterbildungsakademie angehenden Köchen und Betriebsleitern seine Fachkenntnisse vermittelte.

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1989

Heute setzt sich Peter Christian Bürger als Zeitzeuge in Gedenkstätten und Schulen für die Aufarbeitung des DDR-Unrechtsregimes ein und engagiert sich in Projekten des Menschenrechtszentrums Cottbus für die Minderheiten im irakischen Kurdistan.

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2021
Peter Christian Bürger verteilte 2017 bei einer humanitären Aktion des Menschenrechtszentrums Cottbus im irakischen Kurdistan Hilfspakete an Bedürftige.

Peter Christian Bürger verteilte 2017 bei einer humanitären Aktion des Menschenrechtszentrums Cottbus im irakischen Kurdistan Hilfspakete an Bedürftige.

Menschenrechtszentrums Cottbus e.V.

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2017
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Peter Christian Bürger

Leben in der DDR

Peter Christian Bürger wuchs mit seiner Familie in Karl-Marx-Stadt auf. Obwohl Politik im Elternhaus kein Thema war, interessierte er sich schon als Jugendlicher für gesellschaftliche Themen.

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VIDEO // CLIP 1: Kindheit und politische Haltung der Eltern

Die Entwicklung seiner kritischen Haltung zur DDR beschreibt Peter Christian Bürger rückblickend als schleichenden Prozess. Beispielsweise hörte er in der Schule von den Uniformen, Strukturen und dem militärischen Drill der Hitlerjugend zur Zeit des Nationalsozialismus, was in der DDR aufs Schärfste verurteilt wurde. Gleichzeitig erlebte er in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ähnliche Formen. Auf solche Widersprüche stieß er im Laufe der Zeit immer wieder.

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Ein schleichender Prozess
Freie Deutsche Jugend (FDJ)

Der FDJ gehörten nahezu alle Jugendlichen ab 14 Jahren an. Jüngere Kinder wurden mit Schuleintritt meist Mitglieder der Pionierorganisation Ernst Thälmann, die der FDJ angegliedert war. Die Unterbringung in festen Gruppen mit strengen Regeln sollte sie auf das Leben im gesellschaftlichen Kollektiv vorbereiten. Außerdem sollte die FDJ die SED-Politik unter Jugendlichen propagieren und diente der ideologischen Vorbereitung junger Menschen für einen späteren Parteieintritt.

Offiziell war die Mitgliedschaft in der FDJ freiwillig. Doch die wenigen, die ihr nicht beitraten, mussten mit erheblichen schulischen und später beruflichen Nachteilen rechnen. So war ihnen in aller Regel der Zugang zum Abitur versperrt. Das galt besonders, wenn eine kritische Haltung auch in anderen Bereichen sichtbar wurde, etwa durch einen westlich geprägten Kleidungsstil oder dem Engagement in der Kirche und besonders in der evangelischen Jugendgruppe Junge Gemeinde.

Dieser persönliche Druck war neben zahlreichen Freizeitangeboten ein Hauptargument für die Mitgliedschaft in der FDJ. Von ihrer inhaltlich-politischen Arbeit fühlten sich hingegen viele Jugendliche nicht angesprochen und verließen die Jugendorganisation nach Abschluss ihrer Berufsausbildung bzw. des Studiums wieder.

Eine wichtige Funktion erfüllte die FDJ auch bei der Militarisierung der Gesellschaft. Sie war zusammen mit der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) unter anderem für die Förderung der Wehrbereitschaft der Jugendlichen zuständig.

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VIDEO // CLIP 2: Widersprüche und kritisches Denken
Peter Christian Bürger

Fluchtentscheidung

Sein Wunsch nach einem Universitätsstudium wurde Peter Christian Bürger nicht erfüllt, da er mit seiner Einstellung und seinem Verhalten nicht genug einer „sozialistischen und dem gesellschaftlichen Kollektiv angepassten Persönlichkeit“ entsprach. So wählte er einen gastronomischen Beruf und wurde Gaststättenfacharbeiter. In seiner Freizeit engagierte sich Peter Christian Bürger in der evangelischen Jugendgruppe Junge Gemeinde und geriet dadurch bereits als junger Mann ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

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VIDEO // CLIP 3: Sehnsucht nach Freiheit
Unangepasstheit und staatliche Reaktion

In den 1970er Jahren entstanden in der DDR Subkulturen wie beispielsweise die Rocker-, Punk- oder Skater-Szenen, die oft westlichen Vorbildern folgten. Auffällige Kleidung, die Orientierung an westlichen Trends und der unangepasste Lebensstil formten Gegenbilder zur offiziell gewünschten „sozialistischen Persönlichkeit“. Solche subkulturellen Gruppen waren eine Provokation für die SED, aber auch für die kleinbürgerlich geprägte DDR-Gesellschaft.

Wer nicht in den Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ), die paramilitärische Gesellschaft für Sport und Technik (GST) oder die Einheitsgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) eintreten wollte, galt ebenfalls als Abweichler und Provokateur.

Entschied sich jemand für eine individuelle Lebensweise, gehörten für ihn oft schulische beziehungsweise berufliche Diskriminierung, ständige Personenkontrollen, grundlose Inhaftierungen und Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zum Alltag. Das MfS überwachte und bekämpfte auch Gruppen wie die Junge Gemeinde, die sich als politisch-alternativ verstanden und vorwiegend unter dem Dach der evangelischen Kirche agierten.

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Erich Honecker, als Staatsratsvorsitzender der DDR, beim Unterzeichnen der KSZE-Schlussakte am 01. August 1975 in Helsinki

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Erich Honecker, als Staatsratsvorsitzender der DDR, beim Unterzeichnen der KSZE-Schlussakte am 01. August 1975 in Helsinki

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Berufung auf die KSZE-Schlussakte
Ausreiseantrag

Eine legale „ständige Ausreise” sahen die Gesetze der DDR nicht vor. Dennoch genehmigten die Behörden häufig entsprechende Anträge von Rentnern und anderen aus ihrer Sicht „unproduktiven” Menschen, während die meisten Bürger weder für Urlaube noch dauerhaft ins „nichtsozialistische Ausland” reisen durften.

Am 01. August 1975 begann sich die Lage zu ändern: Die DDR unterzeichnete genau wie zahlreiche europäische Staaten und die beiden Supermächte USA und Sowjetunion die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die ein Bekenntnis zu den Menschenrechten umfasste. Nun konnten sich auch Nicht-Rentner darauf berufen, dass die DDR-Regierung den eigenen Bürgern ausdrücklich das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes und Freizügigkeit eingeräumt hatte.

Trotzdem nahmen die zuständigen Behörden Anträge auf „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR” häufig gar nicht erst an oder lehnten sie als „rechtswidrig” ab. Die Antragsteller wurden zu persönlichen Aussprachen einbestellt und auf die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens hingewiesen. Durch solche Einschüchterungen sollten die Antragsteller ihr Vorhaben von selbst zurücknehmen.

Wer weiterhin an seinem Ausreisebegehren festhielt, sah sich in aller Regel massiven Restriktionen und Diskriminierungen im Alltag ausgesetzt. Diese reichten von Rufschädigung, Studien- beziehungsweise Arbeitsplatzverlust bis hin zu Ermittlungsverfahren. Die Bearbeitung der Anträge zog sich oft über Jahre hin und ergab zumeist einen ablehnenden Bescheid.

Dennoch entfaltete die Möglichkeit, die DDR per Antrag verlassen zu können, eine Sogwirkung. Der ständig wachsenden Anzahl von Ausreiseersuchen und den sich mehr und mehr organisierenden Antragstellern mit teils öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen waren die DDR-Behörden nicht gewachsen. Dies trug wesentlich zum Niedergang des SED-Staates bei.

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Als Peter Christian Bürger klar wurde, dass die Behörden der DDR ihn nicht auf legalem Wege ausreisen lassen würden, entschloss er sich mit zwei Freunden zur Flucht. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass das MfS über jeden ihrer Schritte Bescheid wusste – und er ahnte ebenso wenig, wer der Verräter war.

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Im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
Ministerium für Staatssicherheit (MfS)

Wer in der DDR von der Stasi sprach, meinte damit das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit. Über Jahrzehnte ließ die SED-Führung das MfS zu einem flächendeckenden Überwachungs-, Manipulations- und Unterdrückungsapparat ausbauen, der ihren totalen Herrschaftsanspruch gegenüber der eigenen Bevölkerung sichern sollte. Das MfS richtete seine Aktivitäten nicht nur gegen die Bürger der DDR, sondern auch gegen die Bundesrepublik Deutschland als Staat sowie gegen Menschen und Organisationen im Ausland, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR einsetzten.

Das MfS war politische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde bei politischen Straftaten und Nachrichtendienst in einem. Dadurch besaß es umfassende Aufgaben und Kompetenzen, die keiner Kontrolle unterlagen. Lediglich die SED-Führung war gegenüber dem MfS weisungsberechtigt. Das MfS verstand sich als „Schild und Schwert der Partei“ und definierte diese Rolle in stalinistischer Tradition sehr weitreichend. Seine Mitarbeiter verfolgten nicht nur tatsächlich begangene „Taten“, sondern versuchten als eine Art „Ideologiepolizei” auch vorbeugend zu handeln. So zielte das MfS in den 1970er und 1980er Jahren auf eine möglichst flächendeckende Überwachung aller potenziellen Gegner und versuchte, oppositionelle Aktionen schon im Vorfeld zu verhindern. Dazu öffnete das MfS die Briefe verdächtiger Personen, hörte ihre Telefonate ab und ließ sie durch zahlreiche hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter umfassend bespitzeln.

Auf diese Weise überwachten die Mitarbeiter des MfS das Leben und Verhalten der Menschen vom Beruf bis zur Intimsphäre. Dazu setzten sie alle zur Verfügung stehenden Mittel ein und wurden teils durch andere Institutionen wie Schulen, Betriebe und Gewerkschaften unterstützt. Gleichzeitig entwickelten sie Maßnahmenpläne, welche die „Zersetzung“ bestimmter Personen zum Ziel hatten.

Unter „Zersetzung“ verstand das MfS die „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“. Der Betroffene sollte am Arbeitsplatz und in seinen persönlichen Beziehungen isoliert und diskreditiert werden, ohne das planvolle Handeln dahinter zu durchschauen. Das MfS stützte sich dabei auf Erkenntnisse der „operativen Psychologie“. Beispielsweise lösten inoffizielle Mitarbeiter gezielt interne Streitigkeiten in oppositionellen Gruppen aus, um sie von politischen Aktivitäten abzulenken.

Im Zuge des Zusammenbruchs der SED-Diktatur 1989/90 wurde das MfS am 18. November 1989 in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt, schrittweise entmachtet und schließlich am 31. März 1990 aufgelöst. Seit 1992 dürfen Betroffene die Akten einsehen, die das MfS über sie angelegt hatte. Viele Menschen erfuhren erst bei ihrer Akteneinsicht vom Ausmaß der Überwachung, zum Teil durch Freunde oder engste Angehörige.

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VIDEO // CLIP 4: Fluchtpläne und Verrat

Am 16. Februar 1986 wurde Peter Christian Bürger verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis des MfS auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt gebracht. Da bereits die Planung illegaler Grenzübertritte in der DDR strafbar war, wurde Bürger ein halbes Jahr später zu drei Jahren Haft verurteilt, die er in der Strafvollzugseinrichtung Cottbus zu verbüßen hatte. Im Rahmen einer Amnestie kam er jedoch im November 1987 frei.

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Festnahme
Rekonstruktion einer Zelle aus den 1980er Jahren in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus

Rekonstruktion einer Zelle aus den 1980er Jahren in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus

MENSCHENRECHTSZENTRUM COTTBUS E.V.

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1986 - 1987
Politische Haft

Offiziell gab es in der DDR keine politischen Gefangenen, sondern ausschließlich kriminelle Straftäter. Jedoch enthielt das Strafgesetzbuch der DDR (StGB) Paragrafen, die politische Gegner und Ausreisewillige kriminalisierten. Auch der interne Schriftverkehr des Strafvollzugs erfasste sogenannte Staatsverbrecher gesondert, die zum Beispiel wegen „staatsfeindlicher Hetze“ oder „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung” inhaftiert waren. Zu einem solchen Urteil konnten bereits kritische Kommentare zur DDR in privaten Briefen führen.

Ausreisewillige verfolgte der Staat insbesondere mit den §§ 213 StGB („ungesetzlicher Grenzübertritt”) und 214 („Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit”). Auch die Vorbereitung einer Flucht war strafbar, wozu bereits die Äußerung von Fluchtgedanken im Freundes- und Familienkreis zählen konnte. Sogar die Kenntnis von Fluchtabsichten einer anderen Person war strafbar, wenn dies den Behörden nicht angezeigt wurde. Verloren Ausreisewillige auf Grund ihres Ausreiseantrages die Arbeit, konnten sie wegen des § 249 StGB („asoziales Verhalten”) verhaftet werden. Danach galten als asozial DDR-Bürger, die „arbeitsscheu“ waren, oder sich der Arbeit entzogen und mit ihrem asozialen Verhalten nicht der sozialistischen Lebensweise entsprachen.

Das MfS brachte politische Häftlinge vor ihrer Gerichtsverhandlung zumeist in eine der 17 eigenen Untersuchungshaftanstalten und verhörte sie dort oft monatelang. In den 1950er Jahren wandten die MfS-Mitarbeiter häufig physische Gewalt an, um die Inhaftierten zu Geständnissen zu bewegen. Ab den 1960er Jahren nutzten sie stattdessen vermehrt psychische Gewalt. Diese hinterließ keine körperlichen Spuren. Schlafentzug, Isolation, Fehlinformationen und Androhungen von Sanktionen gegen den Häftling und seine Familie schädigten und traumatisierten die Betroffenen jedoch in vielen Fällen nachhaltig.

Nach ihrer Verurteilung verbüßten die „Politischen“ ihre Freiheitsstrafe zusammen mit kriminellen Straftätern im regulären Strafvollzug. Dort sollten die Häftlinge offiziell zu angepassten Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft „erzogen“ werden. Faktisch zielte der Strafvollzug durch militärischen Drill und unverhältnismäßige Strafen darauf ab, die „Politischen“ als gebrochene Personen aus der Haft zu entlassen. Überfüllte Zellen, schlechte Ernährung und Bekleidung, hohe und unverhältnismäßige Disziplinarmaßnahmen sowie mangelhafte Hygiene und Gesundheitsversorgung hatten bei vielen Häftlingen bleibende physische und psychische Schäden zur Folge. Die erzwungene Haftarbeit im Schichtbetrieb unter schlechten Bedingungen war eine zusätzliche Belastung. Die Pflicht, als fachfremder Arbeiter eine sehr hohe Norm zu erfüllen, mangelnder Arbeitsschutz und veraltete Produktionsanlagen führten häufig zu Verletzungen. Es gab mehrere Fälle, in denen Gefangene die Arbeit sabotierten oder durch besondere Aktionen gegen den Arbeitszwang protestierten.

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VIDEO // CLIP 5: Nach der Haft
Peter Christian Bürger

FLUCHT ÜBER DIE BUNDESDEUTSCHE BOTSCHAFT IN PRAG

Als Peter Christian Bürger im November 1987 aus der Haft entlassen wurde, musste er sich regelmäßig bei der Polizei melden. Statt eines Personalausweises bekam er die Ersatzbescheinigung PM 12 ausgehändigt, wodurch sein erlaubter Bewegungsradius stark eingeschränkt wurde. Auslandsreisen wurden ihm gänzlich verboten. So konnte sich Peter Christian Bürger ein Leben in der DDR noch weniger vorstellen und suchte weiterhin nach Gelegenheiten und Wegen zur Ausreise. Ein Radiobericht im Juni 1989 über die Flucht einiger DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag brachte ihn schließlich auf die Idee, es ihnen gleichzutun. Der Weg bis zum sicheren Botschaftsgelände war für ihn jedoch mit zahlreichen Hürden verbunden.

Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger

Auch bei der Planung ihrer Freizeit und den Ferien waren DDR-Bürger umfassender staatlicher Kontrolle unterworfen. Wer verreisen wollte, konnte betriebseigene Ferienheime nutzen, den Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder das Staatliche Reisebüro der DDR in Anspruch nehmen, das eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenarbeitete. Campingreisen auf eigene Faust galten noch in den 1960er Jahren als „schädlicher Individualismus”. Später ging die DDR dazu über, auch diese Urlaubsform zu fördern und mit Hilfe staatlich verwalteter Zeltplätze zu kanalisieren. Für Kinder und Jugendliche organisierten volkseigene Betriebe und die FDJ Ferienlager, die neben der Erholung auch der politisch-ideologischen Erziehung dienen sollten.

Besonders beliebt bei den Bürgern waren Badeurlaube an der Ostsee sowie Wanderausflüge im Harz, dem Erzgebirge und der Sächsischen Schweiz. Urlaub im Ausland war nur mit Genehmigung gestattet und betraf in erster Linie sozialistische Länder wie Ungarn, Bulgarien oder Rumänien, die von der DDR als „Bruderstaaten” angesehen wurden. Nur Fahrten nach Polen (bis 1980) und in die Tschechoslowakei waren genehmigungsfrei erlaubt. Reisen in die Bundesrepublik und andere Länder „im kapitalistischen Ausland“ waren in der Regel nicht möglich.

Einige DDR-Bürger hofften, auf ihrer Reise durch das sozialistische Ausland eine Möglichkeit zur Flucht in den Westen zu finden. In der Praxis endeten jedoch die meisten dieser Fluchtversuche mit Gefängnisstrafen und nicht wenige sogar tödlich. Immer mehr Ausreisewillige steuerten daher im Sommer und Herbst 1989 die bundesdeutschen Botschaften in den Nachbarländern an, um dort Unterstützung bei der Ausreise in die Bundesrepublik zu suchen und die Gefahren einer direkten Grenzquerung zu vermeiden.

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VIDEO // CLIP 6: Auf der Suche nach der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Die Zahl der Zufluchtsuchenden in Prag stieg rasant an. Wie Peter Christian Bürger wagten in den folgenden Monaten mehrere Tausend Menschen aus der DDR die Flucht auf das Botschaftsgelände. Mit Zelten und Schlafsäcken richteten sie sich dort ein. Die Stimmungslage im improvisierten Flüchtlingslager schwankte zwischen Hoffnung und Angst.

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Flucht in die Prager Botschaft
Flüchtlingszelte auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Flüchtlingszelte auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Christine Meder

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1989
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VIDEO // CLIP 7: Monate der Ungewissheit

Die wachsenden Menschenmassen in den Zelten vor der Botschaft brachten die Regierung und Behörden der DDR zunehmend in Zugzwang. Vermittlungsversuche des Ost-Berliner Anwalts Wolfgang Vogel, der schon seit Jahrzehnten Gefangenenfreikäufe und Familienzusammenführungen zwischen Ost und West vermittelte, waren in diesem Fall zum Scheitern verurteilt. Vogel hatte vorgeschlagen, die Botschaftsflüchtlinge sollten zunächst wieder zurück in die DDR fahren und dort auf eine zügige Genehmigung ihrer Ausreise warten. Dies erschien den meisten Geflüchteten zu ungewiss und risikoreich. Auch Peter Christian Bürger harrte lieber auf dem Botschaftsgelände aus statt noch einmal freiwillig in die DDR zurückzukehren.

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Vermittlungsversuche
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VIDEO // CLIP 8: Diplomatische Bemühungen und erlösende Nachricht

VIDEO: Ansprache des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher an die DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Prag am Abend des 30. September 1989

Wochenspiegel / Tagesschau

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Rede von Bundesaußenminister Genscher

Die berühmte Balkonrede Genschers ist als wichtiger Wendepunkt des Revolutionsherbstes 1989 ins kulturelle Gedächtnis Deutschlands eingegangen. Weniger bekannt sind seine anschließenden Worte sowie das Raunen und die empörten Rufe aus der Menge. Die anfängliche Erleichterung der Flüchtlinge wich Unruhe und Sorge, als sie erfuhren, dass die Ausreise per Zug durch das Gebiet der DDR erfolgen sollte – mit einem Zwischenstopp zur Klärung bürokratischer Angelegenheiten. Für Peter Christian Bürger, der sich ohne ein gültiges Ausweisdokument in der Tschechoslowakei befand, war das Passieren der DDR-Grenzen eine besonders heikle Angelegenheit.

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Zwischen Erleichterung und Sorge
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VIDEO // CLIP 9: Letzte Zugfahrt durch die DDR
Peter Christian Bürger

Folgen

Die Ausreise von über 4000 Botschaftsflüchtlingen in Richtung Bundesrepublik mit Genehmigung der DDR-Regierung verstanden viele DDR-Bürger als eine Kehrtwende. Der jahrzehntelang nahezu unüberwindliche „Eiserne Vorhang“ zwischen den Ostblockstaaten und den demokratischen Ländern Westeuropas wurde an immer mehr Stellen löchrig, ohne dass die politische Führung etwas dagegen unternehmen konnte. Tausende machten sich in den nächsten Tagen und Wochen auf den Weg nach Prag und Warschau, um über die dortigen bundesdeutschen Botschaften in den Westen zu gelangen.

Peter Christian Bürger gehörte zu den ersten DDR-Bürgern, die in der Nacht vom 30. September auf den 01. Oktober 1989 mit den Zügen aus Prag in der Bundesrepublik ankamen.

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VIDEO // CLIP 10: Willkommen im Westen
Massenflucht über die Ostblockstaaten

Im Sommer und Herbst 1989 war die Wirtschaft der DDR bereits stark geschwächt. Die Bürger der DDR forderten vom SED-Regime freie und geheime Wahlen, demokratische Reformen und Grundrechte wie Meinungs-, Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Hundertausende gingen auf die Straßen und erhöhten mit ihren regelmäßigen Demonstrationen den Druck auf die Staats- und Parteiführung, zunächst in Leipzig und bald darauf in der gesamten DDR.

Gleichzeitig entschieden sich immer mehr DDR-Bürger zu Ausreiseanträgen oder Fluchtversuchen über andere Ostblockstaaten, die ihre Grenzregimes zunehmend lockerten. Als erstes Land begann Ungarn am 02. Mai 1989 mit dem Abbau der technischen Schutzvorrichtungen an der Grenze zu Österreich, führte aber weiterhin strenge Kontrollen durch. Noch am 21. August 1989 wurde ein Flüchtling an der ungarisch-österreichischen Grenze erschossen. Erst in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 öffnete die ungarische Führung die Grenze zu Österreich endgültig und ermöglichte dadurch die direkte Ausreise für DDR-Bürger über Ungarn.

Wichtige Anlaufziele für Fluchtwillige waren im Jahr 1989 auch die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest, die Tausenden DDR-Bürgern Zuflucht gewährten und sie bei der Ausreise unterstützten.

Die Massenflucht und die Demonstrationen im Herbst 1989 verstärkten sich gegenseitig und trugen neben dem wirtschaftlichen Zusammenbruch entscheidend zum Niedergang der SED-Diktatur bei.

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Schreiben Oskar Fischers an Egon Krenz

Schreiben Oskar Fischers an Egon Krenz – Anfang November 1989 genehmigte die Parteiführung der SED die direkte Ausreise von DDR-Bürgern aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland

BUNDESARCHIV, SAPMO DY 30/70394

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November 1989

Für Peter Christian Bürger begann mit der Ausreise nach Bayern ein neuer Lebensabschnitt, der ihm ungeahnte Möglichkeiten eröffnete, aber auch Herausforderungen mit sich brachte.

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Bayern
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VIDEO // CLIP 11: Ausgrenzungserfahrungen in West und Ost
Neuanfang im Westen

Die Erinnerung an den Moment des endgültigen Passierens der innerdeutschen Grenze ist für die meisten ehemaligen DDR-Bürger mit großen Emotionen verbunden – egal ob es sich um eine Ausreise nach einem genehmigten Antrag, eine gefährliche Flucht oder einen Freikauf aus der politischen Haft handelte. Viele hatten Jahre der Angepasstheit und Unterdrückung hinter sich, nicht selten auch der Angst vor realer oder befürchteter Verfolgung durch die DDR-Sicherheitsorgane.

Für geflüchtete, freigekaufte und übergesiedelte Bürger aus der DDR galt es schon bald nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik neue Herausforderungen zu meistern. Sie mussten sich in einem fremden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System zurechtfinden, eine bezahlbare Wohnung und Arbeitsstelle finden, diverse Behördengänge erledigen und sich um die Anerkennung von Studien- und Berufsabschlüssen kümmern – oft ohne Erfolg. Auch materiell standen die meisten von ihnen zunächst mit leeren Händen da, denn bei ihrer Ausreise konnten sie kaum persönlichen Besitz und nicht einmal Unterlagen oder Erinnerungsstücke mitnehmen.

Für Eltern war die Situation besonders belastend, da sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder ein neues Leben aufbauen mussten – zunächst ohne Freunde und in einem anderen Schulsystem. Wer Familienangehörige zurückgelassen hatte oder bei der Inhaftierung von ihnen getrennt worden war, lebte bis zu einer Familienzusammenführung oder sogar dauerhaft in quälender Ungewissheit über die Verwandten jenseits der Grenze.

Für die meisten Geflüchteten führte der Weg zunächst in ein staatliches Notaufnahmelager wie in Berlin-Marienfelde oder im hessischen Gießen. Wer Glück hatte, fand schon bald bei Verwandten oder Freunden Zuflucht. Doch auch dies konnte zu Konflikten führen: Nach Jahren oder Jahrzehnten ohne engen persönlichen Kontakt lebten sie plötzlich auf knappen Raum und mussten mit komplett unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen vom Leben zurechtkommen.

Die Integration der Übersiedler und Flüchtlinge erwies sich für die Ankommenden, aber auch für die aufnehmende Gesellschaft als Belastungsprobe. Die Neuankömmlinge aus der DDR waren nach dem Grundgesetz deutsche Staatsbürger und damit den Bundesbürgern gleichgestellt. Dies betraf auch Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen wie Renten, Kranken- oder Arbeitslosengeld, welche allerdings ohne jegliche Unterlagen schwer zu ermitteln waren. Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen unterstützten die Übersiedler bei der Eingliederung.

Viele ehemalige DDR-Bürger berichten jedoch auch, dass sie aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Dialekts, teils auch wegen ihrer politischen Haft, Skepsis, Misstrauen und offene Ablehnung erlebten. Andere redeten aus Angst vor Unverständnis, Diskriminierung und beruflicher Nachteile lange Zeit nicht über ihre DDR-Vergangenheit oder über ihre vergangene Inhaftierung. Für die politische Inhaftierung sind sie rehabilitiert, traumatisierende Erinnerungen an Repression, Flucht und Inhaftierung sind jedoch vielfach unaufgearbeitet und verfolgen die Menschen bis ins hohe Alter.

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Heute ist Peter Christian Bürger als Zeitzeuge im Verein Lernort Kaßberg-Gefängnis und in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus aktiv. Er spricht mit Jugendlichen und Erwachsenen über seine eigene politische Verfolgung in der DDR und organisiert Ausstellungen und weitere Bildungsangebote. Weil er selber einmal Flüchtling war, engagiert er sich über das Menschenrechtszentrum Cottbus im irakischen Kurdistan für Flüchtlinge und das friedliche Zusammenleben der dort lebenden Minderheiten in der moslemischen Mehrheitsgesellschaft.

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2021

Der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte ist Peter Christian Bürger eine Herzensangelegenheit. Wenn junge Menschen ihn fragen, was er nachfolgenden Generationen mit auf den Weg geben möchte, bittet er sie, sich immer eines vor Augen zu halten:

„Was passiert, wenn ich heute oder morgen in einer Diktatur aufwache? Was passiert dann mit den Menschen, mit mir? Und das sollte jedem bewusst sein, dass man das niemandem gönnt. Das darf nie wieder passieren. Diktatur ist immer menschenfeindlich – immer!“

Peter Christian Bürger

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Für Demokratie und Menschenrechte
Peter Christian Bürger 2017 beim Wiederaufbau der zerstörten St. Jakob Kirche im christlichen Ort Telskuf

Peter Christian Bürger 2017 beim Wiederaufbau der zerstörten St. Jakob Kirche im christlichen Ort Telskuf in der Autonomen Region Kurdistan im Irak

Menschenrechtszentrum Cottbus e.V.

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Humanitäres Engagement
Peter Christian Bürger 2017 beim Wiederaufbau der zerstörten St. Jakob Kirche im christlichen Ort Telskuf

Peter Christian Bürger bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus

Menschenrechtszentrum Cottbus e.V.

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Peter Christian Bürger

Quellen

Das Interview mit Peter Christian Bürger wurde im Oktober 2019 durch das Menschenrechtszentrum Cottbus e.V. in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus geführt und aufgezeichnet.

Wir danken herzlich Peter Christian Bürger, dem Bundesarchiv, der ARD, der Tagesschau-Mediathek, Christine Meder, der Cottbuser Häftlingsgemeinschaft und allen weiteren Rechteinhabern für die Erlaubnis zur Nutzung der Fotos, Interviewclips und Dokumente für das Projekt NUR FORT VON HIER.